Die Arbeitsgruppe „Asylum and Immigration“ der Vereinigung Europäischer Verwaltungsrichter (AEAJ) hat am 13. und 14. September 2018 im Verwaltungsgericht Riga eine weitere Veranstaltung zu asyl- und aufenthaltsrechtlichen Fragen durchgeführt. Zum europäischen Erfahrungsaustausch unterschiedlicher Instanzen trafen sich 32 Teilnehmer, darunter Verwaltungsrichter/innen aus Lettland, Litauen, Finnland, Griechenland, Italien, Spanien, den Niederlanden, Polen, Österreich und Deutschland sowie ein Richter am EuGH und Mitarbeiter/innen der Europäischen Kommission, der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) und der lettischen Asyl- und Migrationsbehörde. Die Veranstaltung war hervorragend organisiert und vorbereitet worden, namentlich durch die Kolleginnen Winter (Wien), Abele und Kiršteina (Riga) sowie den scheidenden Arbeitsgruppenleiter RiBVerwG Böhmann. Dabei profitierte die AEAJ von der Einladung des Verwaltungsgerichts Riga, das nicht nur die Tagungsräumlichkeiten zur Verfügung stellte, sondern auch für ein köstliches Catering zu den Kaffee- und Mittagspausen gesorgt hat.
Nach der Begrüßung durch den Präsidenten des VG Riga am ersten Veranstaltungstag stellte der Richter am EuGH Lars Bay Larsen die Rechtsprechung des EuGH zur sog. Dublin-Verordnung vor. Die jüngeren Urteile buchstabierten vorherige Grundsatzentscheidungen des Gerichtshofs aus. Leitidee sei der wirksame Rechtsschutz des Einzelnen gegen Überstellungsentscheidungen, wie er in der 19. Erwägung der Dublin III-Verordnung genannt werde. Eine grundlegende Änderung müsse dem Unionsgesetzgeber überlassen bleiben. Danach gab Frau Ann-Kristin Hahnsson von der Kommission einen Ausblick auf die geplante Dublin IV-Verordnung. In der anschließenden Erörterung schlugen Teilnehmer im Hinblick auf politische Widerstände eine Dublin-Reform „light“ als pragmatischen Ausweg vor. Der Verzicht auf Fristen und Individualrechtsschutz dürfte im Rat konsensfähiger als ein solidarischer Lastenausgleich sein. Solche Ideen werden von der Kommission indes nicht verfolgt. Die Kommission, so Frau Hahnsson, halte an ihrem Vorschlag einer umfassenden Neuregelung fest. Nachmittags wurde die Problematik der internen Schutzalternative mit besonderem Fokus auf die Situationen in Afghanistan und im Irak behandelt, zunächst in einem Vortrag der Assistenzrichterin beim Österreichischen VGH Nina Kren und sodann in drei Arbeitsgruppen der Teilnehmer, die anhand vorgelegter Beispielsfälle zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen kamen. Dies führte zu einer engagierten Diskussion im Plenum. Erörtert wurden Rechtsprobleme, aber auch aktuelle Erkenntnisse zu Herkunftsländern. Beides verband sich in der praktisch wichtigen Frage, wie die Gerichte mit der Aussage des UNHCR vom 30. August 2018, wonach Afghanen generell nicht nach Kabul ausweichen könnten, umgehen sollen.
Am zweiten Tagungstag gab die Mitarbeiterin des lettischen Obersten Gerichts Anita Zikmane einen Überblick über die aktuelle Rechtsprechung des EGMR zum Asyl- und Aufenthaltsrecht. Dabei betonte sie insbesondere den Charakter des Case Law und Schwierigkeiten, die sich aus der jeweiligen Verfahrenssprache (Englisch oder Französisch) ergeben. Erwähnenswert ist ihr Hinweis auf die „Factsheets“ auf der Internetseite des EGMR. Sie bieten einen guten Einstieg in die Grundsatzentscheidungen zu bestimmten Themen. Danach trug der Mitarbeiter der Kommission Mauro Gagliardi zur Rückführungsrichtlinie vor; er verdeutlichte den Kontext insbesondere zu asylrechtlichen Fragestellungen, führte zur aktuellen Rechtsprechung des EuGH aus und skizzierte die sich aus einer Überarbeitung der geltenden Richtlinie ergebenden Neuerungen. Als Vertreter der FRA trug anschließend Herr Adriano Silvestri zu den verschiedenen Europäischen Datenbanken bei Asyl-, Migrations- und sonstigen Fragen vor. Er wies auf die geplante Verknüpfung z.B. der Informationen aus EURODAC mit dem Visa-Informationssystem hin und verteilte umfangreiches Informationsmaterial der FRA. Die so genannte Interoperabilität unterschiedlicher Speichersysteme mit persönlichen Daten von Drittstaatsangehörigen sei nicht nur eine informationstechnische Herausforderung. Einhergehende Fragen des Datenschutzes und der Richtigkeit der Daten stellten sich, so seine Prognose, bald auch vor Gericht. Die Veranstaltung wurde sodann mit einem Vortrag der Richterassistentin Baiba Kiršteina (Riga) über das lettische Asylsystem (Verwaltungsverfahren und Gerichtsverfahren) abgerundet. Dieses ist nicht nur in vergleichender Perspektive von Interesse, sondern kann unmittelbar praxisrelevant sein. So muss der deutsche Asylrichter beurteilen, ob ein Asylantrag in Deutschland „nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens“ in Lettland gestellt wurde (vgl. § 71 des Asylgesetzes). Zuletzt gab es eine Führung durch das Verwaltungsgericht Riga.
Diese Veranstaltung war für alle Teilnehmer ein großer Gewinn. Abgesehen von den Vortragsthemen und den jeweils vermittelten spezifischen Fachfragen haben vor allem die aus den persönlichen Gesprächen der Teilnehmer, den Vorträgen und den sich ihnen anschließenden Diskussionen gewonnenen Erkenntnisse über die unterschiedlichen Verfahren und Verhältnisse in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten einen nachwirkenden Eindruck hinterlassen. So gehört z.B. die Asylfrage in Italien als Grundrechtsangelegenheit vor die Zivilgerichte, während die Frage nach dem Aufenthaltstitel bzw. der Ausreiseverpflichtung bei den Verwaltungsgerichten behandelt wird. Oder es wird in Lettland in einem ersten Verfahren über die Asylfrage entschieden, wobei das Verwaltungsgericht die Sache spruchreif machen muss und endgültig entscheidet, während in einem zweiten Verfahren durch dieselbe Behörde und dasselbe Gericht über die sich anschließende Titel- bzw. Ausreisefrage entschieden wird. In einem Teil der Mitgliedstaaten hängt die Entscheidung über die Ausreiseverpflichtung – wie in Deutschland – an der Asylentscheidung; in anderen Mitgliedstaaten sind diese Fragen inhaltlich und/oder organisatorisch voneinander getrennt. Vor dem Hintergrund dieser Vielfalt der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen legt der EuGH das gemeinsame Asylrecht aus. So beschrieb der Richter am EuGH Lars Bay Larsen die Rechtsprechung des Gerichtshofs als Versuch, effektiven Rechtsschutz des Einzelnen und die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten zu versöhnen. Dies lässt aber zugleich manche Folgerung für das jeweilige nationale Recht ungeklärt. Als Beispiel dient das Urteil der Großen Kammer in der Rechtssache C-181/16 („Gnandi“), dessen Auswirkungen auf der Tagung diskutiert wurden. Desweiteren ist die Zahl der asylrechtlichen Verfahren in den einzelnen Mitgliedstaaten ebenso unterschiedlich wie die verfahrensträchtigsten Herkunftsstaaten der Asylbewerber.
Für diejenigen, die an die Veranstaltungstage noch ein freies Wochenende in Riga haben anschließen können, hatten die Gastgeber am 15. September 2018 den Besuch des sog. Okkupationsmuseums und eine Stadtführung durch den wichtigsten Jugendstil-Stadtteil organisiert. Insgesamt haben sich die Kolleginnen aus Riga, die vor Ort alles bestens organisiert hatten, darunter ein gemeinsames Abendessen, sehr um eine insgesamt gelungene Tagung verdient gemacht. Riga, diese stolze mehrhundertjährige ehemalige Hansestadt, hatte sich bei bestem Wetter bunt und quicklebendig herausgeputzt. So hat sich die Reise neben den fachlichen Aspekten auch unter dem Blickwinkel der Erkundung einer anderen europäischen Region in jeder Hinsicht gelohnt. Daher kann den Mitgliedern des BDVR, die als solche automatisch der AEAJ angehören, nur empfohlen werden, neugierig auf die interessanten Veranstaltungsangebote zu sein und die Angebote zu nutzen. Den Organisatoren dieser Veranstaltungen, die alles ehrenamtlich stemmen, gilt unser Dank!
(RiVG Dr. Rabenschlag, Verwaltungsgericht Berlin, und VRiVG Kirkes, Verwaltungsgericht Potsdam)
Link zur AEAJ: https://www.aeaj.org/